1. Für den Bundeskanzler gelten die Maßgaben zur Abgrenzung des Handelns in amtlicher Funktion von der nicht amtsbezogenen Teilnahme am politischen Wettbewerb grundsätzlich in gleicher Weise wie für die sonstigen Mitglieder der Bundesregierung.
2. Aus der Kompetenzordnung innerhalb der Bundesregierung folgt zwar – verglichen mit den übrigen Kabinettsmitgliedern – ein gegenständlich weiteres Äußerungsrecht des Bundeskanzlers, nicht jedoch ergeben sich daraus andere Anforderungen mit Blick auf die Beachtung des Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebots.
3. Gründe, die Ungleichbehandlungen rechtfertigen und der Bundesregierung eine Befugnis zum Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien verleihen, müssen durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sein, das dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Waage halten kann.
4. Als der Chancengleichheit der Parteien gleichwertige Verfassungsgüter kommen der Schutz der Stabilität und Handlungsfähigkeit der Bundesregierung sowie das Ansehen und das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft in Betracht.
5. Der Bundeskanzler verfügt bei der Frage, welcher Maßnahme es zur Erhaltung der Stabilität und Arbeitsfähigkeit der Bundesregierung bedarf, ebenso wie im Bereich der auswärtigen Politik über einen weiten Einschätzungsspielraum. Bei Eingriffen in den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien muss plausibel dargelegt werden können oder in sonstiger Weise ersichtlich sein, dass die einen solchen Eingriff rechtfertigenden Verfassungsgüter tatsächlich betroffen sind und einen Eingriff in das Recht auf Chancengleichheit der politischen Parteien aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG erforderlich gemacht haben.
(Leitsätze des Gerichts)
Heft 09/2022 – Ab Seite 369
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Verfassungsrecht – Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG
Äußerungen der Bundeskanzlerin zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen 2020
BVerfG (Urteil vom 15.06.2022 – 2 BvE 4/20)
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